Erfahrungsbericht Matthias Sägesser
An einem leicht bewölkten, bis heiteren 3. Januar 1974 wurde ich im malerischen Odenwald, im Buchener Kreiskrankenhaus, mit einer rechtsseitigen Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Spalte geboren. Das Wetter damals prophezeite bereits mein ganzes Leben: Zuerst bewölkt, dann heiter.
Beginnen möchte ich mit der wichtigsten Person bezüglich meiner LKGS-Spalte, aber auch sonst, in meinem Leben – meiner Mutter. Sie war gerade 17 Jahre alt, als sie mich zur Welt brachte. Damals gab es weder Pränataldiagnostik noch eine so ausgereifte Ultraschalluntersuchungen wie heute. Dementsprechend war sie «völlig geschockt, überfordert und zunächst auch hilflos. Was ist das denn? Dann kam aber gleich der Doktor und hat mir erzählt, dass man das alles operieren könnte. Ich hatte keine Ahnung was auf mich zu kommt und war wie fremdgesteuert. Warum ich warum? So viele Fragen ohne Antwort. Es ging dann alles nur um dich… füttern, Flaschen mit anderem Schnuller und lernen damit zu leben und umzugehen. Ich hatte so viel Gedanken, doch es ging immer um dich. Hängen lassen kam gar nicht in Frage. Kämpfen und nochmals kämpfen. Termine nach Terminen. Gedanken drehten sich nur um ein wie weiter», schilderte mir meine Mutter ihre Sicht. Hinzu kam, dass sie nicht nur sehr jung, sondern auch alleinerziehend war. Mein Erzeuger zeigte keinerlei Interesse an mir – unabhängig von der Spalte. Die Tatsache, dass meine Eltern nicht verheiratet waren, machte mich damals zu einem sogenannten „Bankert“, einem abschätzig gemeinten Wort für ein uneheliches Kind.
Ein minderjähriges, alleinerziehendes Mädchen in einem 200-Seelen-Dorf auf dem Land – das war damals noch recht verrufen. Sie sah sich vielen Vorurteilen und bösen Kommentaren ausgesetzt, wie etwa: „Das ist die Strafe für ein uneheliches Kind.“ oder „Aus dem Kind kann doch nie etwas werden.“
Achtung Spoiler: Sie sollten Unrecht haben!
Trotz dieser schwierigen Ausgangssituation hat sich meine Mutter immer hingebungsvoll darum bemüht, dass ich die bestmögliche Behandlung erhielt «Viele Herzschmerzen, da immer und immer wieder Operationen anstanden. Aber irgendwie lernt man damit zu leben und nach jeder OP war besser und schöner» sagte sie mir in der Vorbereitung auf diesen Bericht. An dieser Stelle möchte ich ihr von Herzen danken – für alles, was sie für mich getan hat. Ich wäre nicht der, der ich heute bin, ohne DICH! «Ich liebe dich dafür», sagte ich ihr. Darauf antwortete sie mir «Ich liebe dich auch, egal wie es war. Wir sind zwei Verbündete seit deiner Geburt. Wir haben das gerockt». Was soll ich sagen, sie hat recht.
Kurz nach der Geburt wurde ich in der Spitalkapelle notgetauft, damit ich – falls die erste Operation, die schon mit vier Wochen anstand, nicht gelingen sollte – zumindest das Sakrament der Taufe empfangen hatte. Insgesamt hatte ich rund 22–25 Operationen. Einige waren primär notwendig, andere dienten der Funktion oder Ästhetik. Welche genau es in den ersten Lebensjahren waren, kann ich heute nicht mehr sagen. Früher wurden Patienten längst nicht so umfassend informiert wie heute. Für diesen Bericht habe ich Einsicht in meine alte Patientenakte beantragt, doch nach 30 Jahren war sie leider im Archiv bereits vernichtet.
An die OPs im Kindesalter habe ich keine bewussten Erinnerungen – bis auf zwei Situationen, die mir im Gedächtnis geblieben sind:
Als mir der Anästhesist mit Gewalt die Infusionsnadel legte, während ich im hinten offenen OP-Kittel auf dem kalten, metallischen Tisch lag.
Und als ich mit etwa fünf Jahren nach der OP mit Ledermanschetten an Armen und Beinen ans Bett gefesselt wurde. Heute noch bin ich stolz darauf, dass ich mich daraus befreien konnte. David Copperfield ist dagegen ein Anfänger … ;-)
Je älter ich wurde, desto bewusster nahm ich die Eingriffe wahr. Traumatisch waren sie nicht mehr, aber ich erinnere mich gut daran, dass ich mich vor jeder OP fühlte, als würde ich zur Schlachtbank geführt. Ich war verängstigt, hilflos und völlig allein.
Wo war meine Mutter? Natürlich war sie immer für mich da – aber sie durfte damals nicht im Krankenhaus bleiben. Sie brachte mich hin, fuhr wieder nach Hause und konnte sich nur telefonisch erkundigen, wie alles verlaufen war. Für mich bedeutete das: Am Tag der OP war ich allein. Erst nach dem Eingriff erreichten mich ihre ersten Grüße. Das war eine ganz andere Zeit als heute, wo Eltern aktiv eingebunden sind.
Nach den Operationen jedoch, sobald die Infusion entfernt war, habe ich es im Krankenhaus geliebt. Der Stress war vorbei, und die Station wurde für uns Kinder zu einem großen Spielplatz. Später durfte ich sogar den Krankenschwestern helfen – Babys baden, füttern oder aufpassen. Das habe ich unglaublich gern gemacht.
Meine ersten acht Lebensjahre verbrachte ich mit meiner Mutter bei meinen Großeltern auf dem Bauernhof – eine wunderschöne Zeit. Im Dorf und in der Schule war ich einfach „der Matthias“, Hänseleien gab es nicht. Erst als wir in die nächstgrößere Stadt zogen, begann das. Hier lernte ich zwei Welten kennen: zu Hause Fürsorge, Verständnis und Liebe – in Schule und Turnverein hingegen Hänseleien und gemeine Sprüche. Den Turnverein habe ich deshalb bald verlassen. Die Angriffe von Kindern, die mich nicht einmal kannten, konnte ich kaum verstehen. Meine Mutter und meine Oma stärkten mir immer den Rücken, sagten: „Zeig nicht, dass es dir etwas ausmacht – dann verlieren sie die Lust.“ Doch das habe ich nie geschafft. Stattdessen zog ich mich immer mehr zurück und fühlte mich nur im Kreis meiner Familie und engen Freunde wirklich wohl.
Dann kam der heitere, ja sonnige Abschnitt meines Lebens.
Mein Selbstwertgefühl stieg erst wieder, als ich älter wurde und als Erster in meiner Familie das Gymnasium besuchte. Ich begann, mein Anderssein bewusst zu leben. Mein Gedanke: Wenn ich sowieso im Visier stehe, warum dann nicht erst recht auffallen? Also änderte ich meinen Kleidungsstil – nicht Punk, Acid oder Techno, wie man damals vielleicht erwartet hätte, sondern die Garderobe meines Großvaters: breite Manchesterhosen, alte Hemden, Hosenträger, Jacken, Gilets. Das war meine Art zu rebellieren – und daran bin ich gewachsen.
Ein weiterer Schub fürs Selbstvertrauen war meine letzte große Operation: eine Osteoplastik, bei der Knochen aus dem Beckenkamm in den Oberkiefer transplantiert wurde. Das musste dreimal wiederholt werden, bis endlich Zahnimplantate eingesetzt werden konnten. Das Gefühl, keine Lücke mehr zu haben und wieder unbeschwert Lachen zu können, war gigantisch.
Eine weitere wichtige Erfahrung war ein Wochenendseminar für Betroffene, zu dem ich mich Ende 20 anmeldete – zunächst skeptisch. Im Auto dachte ich noch daran, wieder umzudrehen: „Mir geht es doch gut, ich habe alles im Griff.“ Zum Glück bin ich geblieben. Dort traf ich viele Menschen mit Spalte – jeder ging anders damit um. Von verängstigt bis selbstbewusst „Tataaa, hier bin ich!“ war alles dabei. Diese Gespräche, Vertrauensübungen und Rollenspiele waren unglaublich bereichernd für mich und zeigten mir: Ich bin nicht allein – und da geht noch mehr. Das gab mir auch Selbstbewusstsein.
Mit einem immer größer werdenden Freundeskreis habe ich gelernt, mich mehr und mehr selbst zu lieben und wertzuschätzen. Auf meinem Weg – vom introvertierten, zurückgezogenen Jungen zum offenen, lebensfrohen und aufgestellten Mann – bin ich sehr stolz.
Was nicht heisst, dass die Spalte kein Thema mehr ist. Täglich denke ich an meine Spalte. Nicht, dass es mich hemmt oder negativ beeinflusst, es ist einfach eine Tatsache. Wenn ich aus der Dusche komme und meine Narbe unter der rechten Brust sehe oder wenn ich merke wie ich durch mein rechtes Nasenloch fast keine Luft bekomme oder wenn ich beim Zähneputzen täglich meine Implantate reinigen und pflegen muss, sind das Situationen, die mir die Spalte bewusst machen.
Zum Abschluss sollte auch meine Mutter noch ihre Genugtuung bekommen: Nach meiner Promotion feierte sie das öffentlich mit einer Anzeige in der Heimatzeitung. Ein Befreiungsschlag für sie – und ein Zeichen dafür, dass aus dem „Bankert“ eben doch etwas geworden ist.
Meine Geschichte zeigt: Schwierige Anfänge und viele Hindernisse bestimmen nicht, wer man ist – sondern wer man werden kann. Mit Unterstützung, Liebe, Durchhaltevermögen und Selbstvertrauen ist es möglich, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen. Und an diesem Punkt bin ich mittlerweile angekommen.