Nuria und Leandro – mit Spalte ein gutes Leben
Die Geburt meiner Tochter Nuria verlief normal. Ich begann mir erst Sorgen zu machen, als der Arzt uns gegen Ende sagte, die Nabelschnur habe sich mehrfach um den Hals unseres Babys gewickelt. Als dann nach erfolgreicher Geburt Arzt und Hebamme sich anschauten und das Baby in einen anderen Raum trugen, überfiel mich eine grosse Angst. Ich konnte nur noch denken: «Atmet Nuria? Was, wenn nicht?». Fünf Minuten vergingen. Dann kam der Arzt ohne Baby und versicherte mir, dass es Nuria sehr gut gehe. Er wolle zuerst ohne Baby mit mir und meinem Mann sprechen, damit wir nicht zu sehr erschreckten, sagte er. Denn Nuria habe eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Dann durfte ich Nuria endlich in die Arme nehmen. In diesem Moment zählte nur eines: Nuria lebt! Was alles auf uns zukommen würde, ahnte ich nicht. Ich war einfach erleichtert und erschöpft.
Heute ist Nuria eine junge Frau und hat zwölf Operationen hinter sich. Wir hatten in dieser Zeit viele Spital- und Ärzt*innenwechsel, denn wir waren bis vor zwei Jahren nie ganz zufrieden. Dann fanden wir endlich die Ärztin unseres Vertrauens. Nuria geht es heute sehr gut und ich finde, sie hat ein tolles Leben. Auch, weil alle grossen Operationen geschafft sind. Kreativität hat Nuria geholfen, die vielen Spitalaufenthalte besser zu überstehen. Etwa das Malen. Heute macht sie eine Lehre in einem Kreativberuf, nämlich in Polydesign 3D.
Als Nuria zu sprechen begann, lernte sie in der Logopädie ihre Zunge richtig zu positionieren und sprach bald ohne Probleme. Dafür bin ich dankbar. Wie zu erwarten war, hänselten sie Kinder in der Primarschule. In der Sekundarschule hörte dies auf und sie wurde nur noch «angeschaut». Damit konnte sie selbstbewusst umgehen.
Als Nuria 8 Jahre alt war, kam ihr Bruder Leandro zur Welt. Schon vor der Geburt war nach dem «Grossen Ultraschall» klar: Auch er hat eine Spalte. Es war leider nicht zu erkennen, ob es eine komplette Spalte oder «nur» eine Lippenspalte sein würde. Ich reagierte zuerst mit Selbstvorwürfen und fragte mich: «Was habe ich nur falsch gemacht?». Die Unsicherheit bis zur Geburt belastete mich sehr und die Gefühle spielten Achterbahn. Nuria meinte, Leandros Spalte sei nicht so schlimm. «Das kann man operieren», sagte sie. Und sie hatte recht. Leandros einseitige Lippenspalte konnte mit einem eher kleinen Eingriff erfolgreich behandelt werden. Nur wenige Nachkontrollen waren nötig. Heute geht es Leandro gut, wofür ich dankbar bin.
Für mich ist klar: Ihr Leben lang verbindet die Spalte meine Kinder Nuria und Leandro.
Als Eltern einen guten Weg finden
Unser Umfeld reagierte nach den Geburten unterstützend. Als Nuria auf die Welt kam, machten sich Einige anfangs Sorgen um das Neugeborene und um uns Eltern. Es gab auch positive Rückmeldungen: So waren für meinen Vater beide Kinder von Anfang an die schönsten Kinder der Welt.
Vor der ersten Operation im Alter von drei Monaten zog Nurias Anderssein alle Blicke auf sich. Meist folgte dem Anstarren ein betretenes Wegschauen. Ich verstand diese Reaktion und wollte aber gleichzeitig Nuria davor schützen. Früher hätte ich wohl ähnlich reagiert. Am besten fand ich Menschen, die einfach fragten, was Nuria hat. Erst Nuria und später auch Leandro haben mich gelehrt, unbefangen mit äusserlichem Anderssein umzugehen.
Da es bei beiden Kindern nach der Geburt aufwärts ging, liessen die schwierigen Gefühle und Gedanken bei den Geburten bald nach und machten Zuversicht Platz. Mein Mann war schon gleich nach Nurias Geburt zuversichtlich. Er betonte bei Spitalbesuchen: «Ich bin sicher, dass es gut kommt, Nuria wird stark». Das hat mir geholfen, die schwierige Anfangsphase besser zu überstehen. Bald kam ich ins Handeln.
So indem ich, wie mein Mann, intensiv recherchierte. Denn uns war es immer wichtig, uns gut informiert zu entscheiden. Das gab uns Sicherheit. Sich gut zu informieren lohnt sich schon deshalb, weil die verschiedenen Behandlungszentren unterschiedliche Behandlungskonzepte haben. Leider spürte ich immer wieder, dass die Zentren untereinander konkurrenzieren. Ich finde es deshalb sehr wertvoll, dass «LKGS Schweiz – gemeinsam stark» an seinen Anlässen in Fachvorträgen neutral über Behandlungsmöglichkeiten in verschiedenen Zentren informiert. So kann man sich selbst ein Bild darüber machen und an den Anlässen mit Fachleuten, anderen Eltern und Betroffenen darüber diskutieren. Gut informiert zu sein hilft auch bei Spital- oder Ärzt*innenwechseln. Oder wenn man eine Zweitmeinung einholen möchte, was ich empfehle, wenn man unsicher ist.
Wir Eltern zogen beide am gleichen Strick. Die vielen schwierigen Spital- und Ärzt*innenwechsel haben wir als Familie gut gemeistert: Wir entwickelten uns zu einem guten Team. Mir hat auch geholfen, dass ich meine Erfahrungen an einige Mütter mit betroffenen Babys weitergeben konnte. Mich mit anderen Eltern oder Betroffenen zu vernetzen ist für mich schon deshalb sehr wertvoll.
Bei der stärker betroffenen Nuria war es uns Eltern von Anfang an wichtig, ihr Selbstvertrauen zu fördern. Wir wollten sie darin unterstützen, sich annehmen zu können. Dabei halfen auch verschiedene alternativmedizinische Ansätze wie Kinesiologie. Wir sprachen in der Familie offen über alles, erklärten und beantworteten Fragen. Wir zeigten ihr, dass viele Menschen speziell sind. Manche hätten Narben, andere rote Haare oder abstehende Ohren: Das mache sie besonders, betonten wir. Wir hatten zudem Glück: Nuria hat mit uns über sich und ihre Spalte gesprochen. Das finde ich nicht selbstverständlich. Und sie hat uns immer klar gesagt, was für sie stimmte und was nicht. So lehnte sie auch einmal einen Arzt ab und sagte, sie wolle nicht von ihm operiert werden.
Mich selbst nicht zu vergessen war und ist mir auch wichtig. Ich habe mir Auszeiten gegönnt und mich auch von anderen unterstützen lassen. So konnte ich Kraft schöpfen für schwierigere Zeiten und schwierige Entscheide.
Unsere Zukunft sehe ich optimistisch und ich hoffe, bei meinen Kindern bleibt alles so wie es ist.